Erster Internationaler Kongreß für Pietismusforschung in Halle
Vom 28.August bis 1.September 2001 veranstaltete das Interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung (IZP) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen den Ersten Internationalen Kongreß für Pietismusforschung.
Das 1993 am historischen Ort des hallischen Pietismus gegründete Forschungszentrum hat die Aufgabe, Strukturen und Organisationsformen des Pietismus, seinen sozialen und wissenschaftlichen Reformideen, seine weltweiten Verbindungen und Ausstrahlungen zu untersuchen und den wissenschaftlichen Austausch in der Pietismusforschung zu fördern. So gab dieser Kongreß im Sommer 2001 international mit der Erforschung des Pietismus befaßten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Gelegenheit, Ergebnisse ihrer Arbeiten vorzustellen und zu diskutieren. Neben dem Pietismus kamen auch seine Beziehungen zu verwandten theologischen, sozial- und frömmigkeitsgeschichtlichen Erscheinungen wie Puritanismus, Quietismus, Jansenismus und Nadere Reformatie in den Blick ebenso wie seine Auswirkungen auf die Erweckungsbewegung und den Neupietismus. Von der interdisziplinären Zusammenarbeit dürfen neue, fruchtbare Impulse gerade auch für die begriffsgeschichtliche Klärung des Pietismus bzw. der pietistischen Strömungen erwartet werden.
Neben einem übergreifenden Eröffnungsvortrag am Abend der Anreise und mehreren Hauptvorträgen, gab es Referate und Diskussionen in sieben Sektionen zu folgenden thematischen Schwerpunkten:
- Pietismus als theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Erscheinung
- Der Pietismus in Staat und Gesellschaft
- Der Pietismus und die Künste
- Der Pietismus in Pädagogik, Psychologie und Medizin
- Der Pietismus in seinen internationalen Beziehungen
- Pietismus, Mission und die Erforschung der Welt
- Projekte zur Erschließung von pietistischen Quellen
1. Pietismus als theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Erscheinung
Kennzeichnend für den im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert europaweit verbreiteten Erneuerungswillen in Theologie und Glaubenspraxis ist eine nicht an die Konfessionsgrenzen gebundene, schwer durchschaubare Gemengelage von Reformbewegungen und -bestrebungen. Dazu gehören neben dem Jansenismus in Frankreich der Quietismus in Spanien und Italien, in den Niederlanden die Nadere Reformatie sowie in Deutschland der in seinen unterschiedlichen territorialen Formen facettenreiche lutherische, reformierte oder separatistische Pietismus, seine Vorläufer und begleitenden Strömungen. Ebenso vielfältig wie seine raumzeitlichen, vom englischen Puritanismus des 16. und 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reichenden Ausprägungen sind die Versuche, eine pietistische Theologie zu formulieren und diese in Frömmigkeitspraxis umzusetzen.
2. Der Pietismus in Staat und Gesellschaft
Pietistische Strömungen haben unter unterschiedlichen kirchlichen, sozialen, politischen Bedingungen unterschiedliche Erscheinungsformen angenommen, gingen Verbindungen mit unterschiedlichen sozialen Schichten ein, wiesen unterschiedliche Sozialformen auf und hegten konträre politische Präferenzen. Im Unterschied zum Quietismus weist der Pietismus - wie vor ihm der Puritanismus und die Nadere Reformatie - auch einen Politik und Gesellschaft einbegreifenden Gestaltungswillen auf. Beginnend in der pietistischen Familie über spezifische Erziehungs- und Bildungskonzepte mit entsprechenden Formen der Institutionalisierung bis hin zur Formierung gesellschaftlicher Gruppen mit Möglichkeiten der Einwirkung auf die Machtpolitik auf höchster Ebene, hat der Pietismus versucht, seinen Einfluß in Staat und Gesellschaft geltend zu machen. Dazu gehören neben Versuchen einer "pietistischen Personalpolitik" und der Einflußnahme auf das Schul- und Bildungswesen auch die unterschiedlichen Ausprägungen pietistischer Sozialtätigkeit wie Armen-, Waisen- und Krankenfürsorge.
3. Der Pietismus und die Künste
Immer noch steht der Pietismus in dem Ruf, sich zu den Künsten voreingenommen, ja sogar ablehnend zu verhalten. Geltend gemacht werden für diese Einschätzung vor allem die Abneigung gegen alles Spielerische, nur Unterhaltsame und besonders die Sinnlichkeit Affizierende, wie sie in zahlreichen Traktaten formuliert ist. Dies gilt in erster Linie für literarische Fiktionen wie den Roman und das Drama, in der Musik für die Oper, das Oratorium und die konzertante Kirchenmusik. Eine interessante Ausnahmeerscheinung stellt dabei das Lied als Verbindungsglied zwischen Musik und Dichtung dar. Doch auch die Existenz pietistisch geprägter Bildprogramme und die von Pietisten initiierte Bautätigkeit (z.B. Waisenhäuser, Schulen, Herrnhuter Siedlungen) geben Anlaß, das vermeintlich problematische Verhältnis pietistischer Strömungen zur Kunst zu hinterfragen, und bilden eine lohnende Herausforderung auch für Kunst- und Architekturhistoriker/innen.
4. Der Pietismus in Pädagogik, Psychologie und Medizin
Unter dem Motto "Weltveränderung durch Menschenveränderung" entwickelten Vertreter pietistischer Strömungen früh pädagogische, psychologische und medizinische Konzepte auf der Grundlage einer spezifischen Sicht vom Menschen, die Elemente divergierender philosophischer und theologischer "Anthropologien" aufgenommen und damit heftige Kontroversen ausgelöst hat. Im Zentrum des pietistischen Menschenbildes und der daran anschließenden Bildungs- und Erziehungsansätze steht das sündige und deshalb erneuerungsbedürftige Herz - eine Metapher, die einsteht für die leibseelische Ganzheit des Menschen. Gegen die pathogene Bosheit machten Pädagogen, Psychologen und Mediziner gemeinsam Front, wobei jedoch die Verquickung von Heilsversprechen und drakonischen Maßnahmen nicht selten selbst Krankheitsbilder wie Melancholie, Hypochondrie und Hysterie hervorgerufen hat.
5. Der Pietismus in seinen internationalen Beziehungen
Ein wesentliches Merkmal des Pietismus ist dessen theologisch begründetes, aber auch von politischen und ökonomischen Überlegungen geleitetes Interesse an der Einrichtung internationaler Beziehungen. Voraussetzung für die Durchführung seines religiösen und politisch-sozialen Gestaltungswillens war u.a. der Aufbau eines nationalen wie internationalen Informations- und Kommunikationsnetzes. Neben Briefen und den von Hand zu Hand gereichten Zirkularkorrespondenzen wurde die von eigenen Buchdruckereien produzierte und über eigene Verlage und Buchhandlungen vertriebene Literatur zu einem entscheidenden Medium für die Etablierung und Konsolidierung einer weltweiten Glaubensgemeinschaft. Um pietistischem Gedankengut globale Wirkung zu verschaffen, wurden einschlägige Schriften und vor allem die Bibel in zahlreiche Sprachen übersetzt, wie umgekehrt im Sinne eines interkulturellen Transfers fremdsprachige Werke ins Deutsche übertragen wurde. Ein weiteres Augenmerk soll - eher unter dem Aspekt der mehr oder weniger gelungenen Kommunikation - den pietistischen und antipietistischen Streitschriften gelten.
6. Pietismus, Mission und die Erforschung der Welt
Der weltweite Geltungs- und Verbesserungswille von Pietisten führte zu einer überaus regen Reisetätigkeit. Pietistische Missionare wirkten auf dem amerikanischen, eurasischen und afrikanischen Kontinent, wo sie die Eigenständigkeit und Bedeutung ihnen fremder Völker, Sprachen und Kulturen entdeckten und beschrieben. Die in Briefen, Reisebeschreibungen und Tagebüchern dokumentierten Beobachtungen und Erkenntnisse sowie die ethnographischen und naturkundlichen Sammlungen kamen Forschern verschiedener Wissenschaftszweige zugute. Auf den Spuren der Missionare bereisten Ethnologen, Sprach- und Naturwissenschaftler, aber auch Händler und Diplomaten ihnen bislang unbekannte Landstriche. Weltweit sind heute zahlreiche im Pietismus verwurzelte, kulturell jedoch höchst eigenständige Kirchen und kirchliche Gemeinschaften ein lebendiges Zeugnis für die von diesen Missionaren ausgegangenen Impulse.
7. Projekte zur Erschließung von pietistischen Quellen
Eine wesentliche Voraussetzung und Grundlage für die Erforschung des Pietismus besteht in der wissenschaftlichen Erschließung und Aufbereitung vor allem von handschriftlichen Beständen. Von neuerschlossenen und im Druck zugänglich gemachten Materialien haben nicht nur die bislang in der Forschung engagierten Disziplinen Aufschlüsse zu erwarten, es können darüber hinaus auch neue Disziplinen für die Erforschung des Pietismus interessiert und gewonnen werden, um damit methodisch sowie im Blick auf Fragestellungen und Erkenntnisinteressen das interdisziplinäre Spektrum der Pietismusforschung zu erweitern. Dementsprechend war diese Sektion gedacht als Forum zur Vorstellung und Diskussion von editorischen und bibliographischen Problemen und Projekten, von methodisch orientierten Forschungsansätzen sowie von laufenden oder geplanten Forschungsvorhaben.