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Perfektionismus und Perfektibilität Sollzustände in Pietismus und Aufklärung

Vortragsreihe der Interdisziplinären Zentren für die Erforschung der Europäischen Aufklärung und für Pietismusforschung

Mi, 18.00 Uhr s.t., 5.10., 9.11., 7.12.2011, 18.01., 8.02., 7.03.2012
Franckesche Stiftungen, Haus 26, Englischer Saal

Vollkommen zu sein ist etwas anderes als vollkommen zu werden und etwas ganz anderes als vollkommener zu werden. Was dort ist, soll hier erst werden, vollgültig oder doch  annäherungsweise. Dass der Traum von Vollkommenheit nicht Traum bleiben  sollte, nachdem es sie aus Sicht des 18. Jahrhunderts – sei es in  Gestalt des Paradieses, der urchristlichen Gemeinde, der griechischen  Antike – vermeintlich bereits einmal gegeben hatte, zeigen die unter den  Lemmata Perfektionismus und Perfektibilität in die Begriffsgeschichte  eingegangenen  Bemühungen von Pietisten und von Aufklärern, besser, wenn  eben nicht gleich vollkommen zu werden und zu bleiben.

Pietismus und Aufklärung, als die kultur- und mentalitätsprägenden Wirkmächte im 18. Jahrhundert,  verbinden mit den Begriffen Perfektionismus und Perfektibilität Konzepte  und Praktiken der Vervollkommnung (als Prozess) und der Vollkommenheit  (als Zustand), die in Theologie und Philosophie, Pädagogik,  Historiographie / Geschichtstheorie und Ästhetik / Kunst manifest  geworden sind. Auffällig für deren Umsetzung ist eine doppelte  Wirkdynamik: zum einen – im Sinne steuernder Eingriffe in die  Lebensführung – von den Theorien und Praktiken her auf den Menschen  resp. auf die Menschen zu, zum andern – im Sinne von Systemkorrekturen –  von diesen her auf die Steuerungsdiskurse und -einrichtungen zu, die  ihrerseits als verbesserungswürdig und vervollkommnungsfähig betrachtet  werden. Es ging demnach für Pietismus und Aufklärung nicht nur um die  Erziehung des vollkommenen Christen, Bürger und Menschen, sondern, in  historisierender Perspektive, um die Vervollkommnung der christlichen  Religion und der bürgerlichen Gesellschaft, auch in Gestalt ihrer  jeweiligen Institutionen.

Aufgabe der Vortragsreihe soll es sein,  für Pietismus und Aufklärung Konzepte und Praktiken der Vervollkommnung  zu identifizieren und unter Berücksichtigung von fachlich-disziplinären  sowie nationalen bzw. territorialstaatlichen  Ausprägungen zu  analysieren. Gefragt werden soll in einer Pietismus und Aufklärung  korrelierenden Perspektive nicht nur nach den wechselseitigen Einflüssen  und historischen Verbindungslinien, sondern auch nach systematisch  relevanten Konkurrenzen, Ergänzungen und Konfrontationen. Was  formulierten in Sachen Vollkommenheit Philosophie und Pädagogik und wie  verhielten sich deren Konzepte zueinander, wie anthropologische zu  theologischen Entwürfen und wie sich die etwaige 'deutsche' zu einer  etwaigen 'französischen' Vollkommenheit?

Dabei sind hinsichtlich der Frage nach  den Zusammenhängen zwischen Theoriebildung und praktischer Ausrichtung  im Zeichen der Vervollkommnung / Vollkommenheit für Pietismus und  Aufklärung sowohl Binnendifferenzierungen zu veranschlagen als auch  Bezugnahmen überkreuz.

Die regional-territorial und historisch  unterschiedlichen Pietismen waren hinsichtlich ihrer Vorstellungen von  Vollkommenheit und der Frage, wie diese zu erreichen und zu erhalten  sei, durchaus uneins. Zugleich sah sich der Pietismus wegen seines  Vervollkommnungsstrebens scharfer Kritik vornehmlich aus dem  orthodox-lutherischen, aber auch aus dem aufklärerischen Lager  ausgesetzt. Den Orthodoxen missfiel die vermeintlich auf  (Selbst-)Vergottung gerichtete protokatholisch anmutende  Werkgerechtigkeit als gnadensynergistischer Eingriff in das Heils- und  Gnadenhandeln Gottes. Demgegenüber musste die von den Orthodoxen  gemutmaßte Selbstermächtigung der Pietisten als Autonomisierungsstreben  den Aufklärern nicht unlieb und durchaus bekannt sein, freilich – auf  Seiten der Aufklärung – verstandes- und vernunftbasiert, auch durchaus  unter Einbezug der Sinne und der Sinnlichkeit, und nicht allein in  Gestalt einer asketischen, weltkritischen Frömmigkeit, wie sie am  Pietismus identifiziert wurde.

Ähnliches gilt für die Aufklärung: Soweit  sie ausdrücklich von den Pietisten rezipiert worden ist, war auch ihr  Konzept von Perfektibilität den Vorwürfen der heillosen und  gnadenvergessenen Selbstvergottung, der Verstandeshörigkeit, der  Weltverfallenheit und insgesamt einer im Irdischen und in der Geschichte  befangenen Kurzsichtigkeit ausgesetzt. Auch hier scheint die Redensart  zuzutreffen, dass wenn zwei das Gleiche tun, es noch lange nicht  dasselbe ist: Im Streben der Aufklärer nach Welterziehung durch  Menschenerziehung hätte sich der Pietismus mit seinem Anliegen einer  "Weltveränderung durch Menschenveränderung" (M. Schmidt) – in Teilen  zumindest – gespiegelt sehen können (und umgekehrt), was er aber nicht  getan zu haben scheint (und umgekehrt).
Vergleichbares wird für die Binnenverhältnisse in der Aufklärung zu  veranschlagen sein: So wurde von den Vertretern eines engen  Aufklärungsbegriffs gerade im Blick auf die Rolle der Sinnlichkeit und  deren Verhältnis zu Verstand und Vernunft andere Vollkommenheits- bzw.  Vervollkommnungskonzepte und andere Praktiken profiliert, als das in  Empfindsamkeit oder Sturm und Drang als den kulturhistorisch ebenfalls  bedeutsamen Filiationen im Aufklärungszeitalter der Fall war.

Ein Augenmerk hat neben den  theologischen, (moral-)philosophisch-ethischen und sozialen  Konzeptualisierungen von Perfektionismus und Perfektibilität  ästhetischen Aspekten und literarischen Realisierungen zu gelten: die  Darstellung eines Lebens als progredierend, schließlich als erreicht  oder im Sinne einer unabschließbaren Approximation als angestrebt  er/gedichtete Vervollkommnung. Zu denken ist u.a. an die sich im 18.  Jahrhundert verfestigenden Gattungen der Fabel und der moralischen  Erzählung, des bürgerlichen Trauerspiels, des weinerlichen Lustspiels,  schließlich des Entwicklungs- und des Bildungsromans mit ihren je  eigenen formalen und inhaltlichen 'Spielregeln' im Umgang mit der Frage  nach der Gestaltung oder dem Zufall(en) eines gelingenden Lebens in  teleologischer Perspektivierung.
In diesem Zusammenhang ist zudem nach der symbolischen Bedeutung und  Funktion zu fragen, die dem künstlerisch Vollkommenen in der  ästhetischen Theorie und Praxis des 18. Jahrhunderts für die Ausbildung  menschlicher Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung beigemessen wurde.

Auszuloten ist damit unter den  Stichworten Perfektionismus / Perfektibilität ein dynamisches Feld von  anthropozentrischen Form- und Prägekräften in Theologie,  Philosophie,  Pädagogik und Ästhetik bzw. in den Künsten. Neben den bereits  angedeuteten Fragerichtungen ist somit übergreifend in den Blick zu  nehmen:

Geht es um die Vervollkommnung und / oder  Vollkommenheit eines Einzelnen, Einzelner oder aller, sprich des  besonderen Menschen oder der Menschheit im Allgemeinen, zum andern wird  Vollkommenheit als erreichbar und damit auch zuständlich gedacht oder  als Näherungswert und damit prozessual? Welche Konkretionen, welche  faktisch-historischen oder imaginären Ausprägungen von Vollkommenheit  gibt es, entweder im Sinne eines vorbildhaften Einzelnen, der als  orientierende Größe figuriert und fungiert, oder als soziale Entität,  als Gemeinschaft, die ebenfalls Orientierung und Perspektive bietet? Wo  liegen mögliche Widerstände der Vollkommenheit, wo ihre strukturellen  Grenzen oder Aporien? Wie wird das Andere der Vervollkommnung  konzipiert, sei es als Verstocktheit, Immutabilität oder gar als  Degeneration / Korruption, und wie gestaltet sich der Umgang mit dem/n  Unverbesserlichen?

Ablaufplan:

05.10.2011           Dr. Stefan Lorenz (Münster)           Leibniz ein Ethiker? Vervollkommnung zwischen Metaphysik und Moral                             09.11.2011           Dipl. theol. Claudia Drese (Halle)           Der Weg ist das Ziel – Perfektionismus im Pietismus                             07.12.2011           Prof. Dr. Johannes Rohbeck (Dresden)           Perfektibilität und Teleologie in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung                             18.01.2012           Prof. Dr. Françoise Lotterie (Lyon)           Entre Lumières et religions: Inflexions de l'idée de perfectibilité à Coppet (Staël, Constant)                             08.02.2012           Prof. Dr. Anne Zwierlein (Regensburg)           Vom Ende der Perfektibilität im 19. Jahrhundert:  Biologischer Determinismus und soziale Stratifikation in Bildungsroman  und Naturwissenschaften                             07.03.2012           Prof. Dr. Pia Schmid (Halle)           Gottseligkeit und Glückseligkeit. Perfektibilität in pädagogischer Theoriebildung und Praxis im 18. Jahrhundert

Kontakt und Information:

PD Christian Soboth
Dipl. theol. Claudia Drese
IZP
Franckeplatz 1, Haus 24
06110 Halle a.d. Saale
+40 (0)345-5523075

www.pietismus.uni-halle.de

Dr. des. Konstanze Baron
IZEA
Franckeplatz 1, Haus 54
06110 Halle a.d. Saale
+49 (0)345-5521789

www.izea.uni-halle.de

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